S2k-Leitlinie – Medizinische Kompressionstherapie

Interview mit Prof. Dr. med. Eberhard Rabe

S2k-Leitlinie zur Medizinischen Kompressionstherapie

Medizinische Kompressionstherapie: Unverzichtbar und wissenschaftlich belegt

Die neue Leitlinie Medizinische Kompressionstherapie1 entstand unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie. Sie fasst die Aspekte zur Anwendung der Kompressionstherapie auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zusammen. Dabei kommen medizinische Kompressionsstrümpfe (MKS), phlebologische Kompressionsverbände (PKV) und medizinische adaptive Kompressionssysteme (MAK) zum Einsatz.

Die komplette Leitlinie zur Kompressionstherapie finden Sie auf der AWMF-Internetseite.

Prof. Dr. med. Eberhard Rabe, Leitlinienkoordinator, geht im Interview detailliert auf die neue Leitlinie ein.

Interview zur S2k-Leitlinie mit Prof. Dr. med. Rabe

Die Kompressionstherapie weiterentwickeln, den Fokus auf die Beschwerdelinderung setzen und mehr Patienten adäquat mit medizinischen Hilfsmitteln versorgen – das sind die Ziele der neuen S2k-Leitlinie zur medizinischen Kompressionstherapie. Unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie erarbeitete auch Prof. Eberhard Rabe die neue Leitlinie. Sein Fazit: „Die richtige Kompressionsklasse und die passenden Materialeigenschaften sind entscheidend für den Erfolg der Kompressionstherapie.“

Sehr geehrter Herr Prof. Rabe, welche grundsätzlichen Änderungen bringt die neue Leitlinie „Medizinische Kompressionstherapie“ mit sich?

„Die alte Leitlinie konzentrierte sich auf die Krankheitsbilder. Die neue Leitlinie legt einen größeren Schwerpunkt auf die klinischen Ergebnisse. Natürlich werden die Krankheitsbilder wie Varikose oder Ulcus cruris venosum im Kapitel Indikationen weiterhin berücksichtigt. Nun fragen wir aber konkret: ‚Wie wirkt die Kompressionstherapie, zum Beispiel beim Ulcus?‘ Die Abheilung des Ulcus cruris venosum oder die Besserung der Beschwerdesymptomatik stehen also im Vordergrund.“

Was bedeutet das genau?

„Die Leitlinie hat das Ziel, die Durchführung und den Stellenwert der Kompressionstherapie zu verbessern. Sie unterstützt zwar auch bei Indikationsfragen – also welches Hilfsmittel bei welcher Indikation geeignet ist. Vorrangig geht es aber darum, auf Basis wissenschaftlicher Arbeiten festzuhalten, welche Hilfsmittel und Therapieformen den Patienten wirklich helfen. Sie bietet nun auch Vorgaben für venöse Beschwerden wie Stauungsbeschwerden, Schweregefühl, Schwellungsgefühl oder berufsbedingte Beschwerden, etwa bei Menschen, die den ganzen Tag stehen. Beinbeschwerden ohne entsprechende vaskuläre Veränderungen stellen bisher keine vergütungsfähige Indikation dar und wurden bisher nicht als Indikation aufgeführt. Nun wurden sie als Indikation für die Kompressionstherapie in der neuen Leitlinie ergänzt: Inzwischen verfügen wir über Daten, die belegen, dass diese Beschwerden und Veränderungen der Haut mit Kompressionstherapie gelindert und die Lebensqualität gesteigert werden kann. Das ist ein wesentlicher Punkt der neuen Leitlinie.“

Welche Therapieoptionen wurden neben dem Medizinischen Kompressionsstrumpf (MKS) aufgenommen?

„Wir haben uns mit dem ganzen Komplex der medizinischen Kompressionstherapie beschäftigt: mit phlebologischen Kompressionsverbänden (PKV), MKS und medizinischen adaptiven Kompressionssystemen (MAK). Besonders Letztere werden in Zukunft eine größere Rolle spielen.“

Welche Empfehlungen geben Sie zu medizinischen adaptiven Kompressionssystemen?

„In der initialen Entstauungsphase beim Lymphödem, beim ausgeprägten venösen Ödem sowie beim Ulcus cruris venosum können MAK als Alternative zu Bandagierungen mit Binden eingesetzt werden. Beim Ulcus cruris venosum präferieren wir nach der Entstauungsphase die speziellen Ulcus Kompressionsstrümpfe (zweilagige Kompressionsstrumpfsysteme). Die Leitlinie orientiert sich dabei an den aktuell vorliegenden wissenschaftlichen Daten.“

Beim medizinischen Kompressionsstrumpf wird schon länger über die Materialqualität diskutiert. Gibt die Leitlinie zu diesem Thema eine konkrete Empfehlung?

„Sowohl das Material als auch die Kompressionsklasse spielen eine große Rolle. Das neue Hilfsmittelverzeichnis verweist wieder auf die indikationsbezogene Kompressionsklasse. Das ist ein Richtwert. Die Kompressionsklasse sollte sich jedoch individuell danach richten, ob mit ihr die Verbesserung der Beschwerden erreicht werden kann. Dafür soll immer die niedrigste wirksame Kompressionsklasse gewählt werden. Neben der Kompressionsklasse spielt auch das Material eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit der Kompression. Vor allem bei ausgeprägten Krankheitsbildern wie schwerer CVI, Ulcus cruris venosum oder ausgeprägten Hautveränderungen muss sich die Materialauswahl individuell daran orientieren.“

Der behandelnde Arzt soll also sowohl eine Kompressionsklasse als auch ein Material empfehlen?

S2k-Leitlinie zur Medizinischen Kompressionstherapie

„Das wäre der Idealfall. Fakt ist aber: 90 Prozent der Kompressionsstrümpfe werden in der Kompressionsklasse 2 verordnet, obwohl auch die Kompressionsklasse 1 verordnet werden kann und ebenfalls budgetneutral ist. Das ist alles andere als eine differenzierte, kompressionsdruckadaptierte Verordnungsweise. Natürlich ist auch der Kompressionsdruck wichtig. Der Trend geht aber dahin, dass das Material eine größere Rolle spielt als die Kompressionsklasse.“

Stehen weitere Verordnungsinformationen in der Leitlinie?

„Wir informieren darüber, welche Daten auf dem Rezept stehen müssen, zum Beispiel die zusätzlichen Verordnungsmerkmale flachgestrickter medizinischer Kompressionsstrümpfe. Das heißt, wir empfehlen auch Zusätze wie Polsterungen oder Einkehren – abhängig von den Bedürfnissen des Patienten. Auch An- und Ausziehhilfen sowie die Hautpflege werden berücksichtigt.“ 

Was ist für Sie die größte Neuerung der Leitlinie?

„Wegweisend ist die Aufnahme der medizinischen adaptiven Kompressionssysteme. Im nächsten Schritt muss dafür eine Standardisierung erfolgen. Außerdem ist mir sehr wichtig, dass wir bei den Indikationen die Wirksamkeit der Hilfsmittel in den Vordergrund stellen, beispielsweise die Verbesserung der Beschwerdesymptomatik. Und das aus gutem Grund: Der Kompressionsstrumpfmarkt ist relativ stabil, auch wenn einige Verschiebungen von Rundstrick zu Flachstrick stattfinden. Die Patientenzahlen sind bei diesen klassisch vergüteten Indikationen jedoch weitgehend gleichbleibend. Es könnten aber noch viel mehr Menschen von Kompression profitieren – auch ohne eine klassische Indikation wie Lipödem, Lymphödem oder CVI. Das gilt zum Beispiel für Menschen mit berufsbedingten Stehödemen oder mit Adipositas. Ein übergewichtiger Mensch mag keine Varikose aufweisen – dennoch kann eine funktionelle venöse Störung vorliegen. Sitzt der adipöse Mensch lange, ist der Blutrückfluss zum Herzen beeinträchtigt. Das Ergebnis: Einer Varikose ähnliche Symptome bis hin zum Ulcus cruris trotz gesunder Venen. Mit den neuen Indikationen wächst das Spektrum der Menschen, für die eine Kompressionstherapie infrage käme und hilfreich wäre.“

Welche positiven Veränderungen erhoffen Sie sich von der neuen Leitlinie für die Therapie und für Ihre tägliche Arbeit?

„In den letzten zehn Jahren hat sich neues Wissen über die Wirkung der Kompression, über die Bedeutung der Kompressionsklassen und Materialien ergeben. Ein Ziel der Leitlinie ist, darüber aufzuklären und die Kompressionstherapie weiterzuentwickeln. Ich hoffe also, dass Ärzte zukünftig wirklich die – niedrigste wirksame Kompressionsklasse verschreiben und bei den Strumpfmaterialien stärker differenzieren – natürlich immer orientiert an Krankheitsanforderungen. Für den Patienten und seine Therapietreue ist entscheidend, dass die Kompression seine Beschwerden und Veränderungen bessert. Genauso wichtig ist aber auch, dass der Kompressionsdruck nicht höher als notwendig ist.“

Herr Prof. Rabe, vielen Dank für das Gespräch.

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Kontakt für Ärzte

Tel.: 0921 912-977 | Fax: 0921 912-57 | E-Mail: aerzte.service@medi.de | Mo. – Do. 8.00 – 17.00 Uhr und Freitag 8.00 – 14.00 Uhr

Quelle

1 Rabe E et al. S2k-Leitlinie: Medizinische Kompressionstherapie der Extremitäten mit Medizinischem Kompressionsstrumpf (MKS), Phlebologischem Kompressionsverband (PKV) und Medizinischen adaptiven Kompressionssystemen (MAK). Online veröffentlicht unter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/037-005.html (Letzter Zugriff 13.05.2019)